Braindrain oder „Auszug des Geistes”
Nachdenken über Vertreibung einer Elite oder Standortwechsel der Kenner und Könner
Braindrain sagt man heute, wenn ein Land seine Intelligenz verliert durch Abwanderung oder Abwerbung in andere Länder, wo sich bessere Arbeits- und Lebensbedingungen bieten. Das ist mit Schäden verbunden für das Land, das da mal Heimat war. Eben diese Schäden nicht erkannt zu haben, ist einer der vielen Beweise für den menschenverachtenden Größenwahn des Hitlerregimes. Wieso haben die, die so gut die Gewinne vom Töten der Juden ausrechnen konnten, nicht berechnet, was der Verlust ihrer Geisteselite Deutschland kosten würde?
Auszug des Geistes führte als Begriff Walter A. Berendsohn in unsere Sprache ein, und er hatte ihn selber schmerzlich getroffen. Mit seinem Buch Die humanistische Front von 1939 wurde er der Begründer der deutschen Exilliteraturforschung. Germanist, von Hause aus, dem, seiner antifaschistischen Einstellung und seiner jüdischen Herkunft wegen, Lehrerlaubnis, Universitätsanstellung, Doktor- und Professorentitel, Staatsbürgerschaft und Eigentum entzogen wurde. Seine Bemühungen um Wiederanerkennung seiner Universitätstitel reichen nach dem Exil in Dänemark und Schweden bis ins Jahr 1983, als ihm die Hamburger Universität nach mehrfacher Ablehnung im Alter von 99 Jahren den Ehrendoktortitel verlieh. Walter A. Berendsohn konnte in Europa bleiben, sich unter großen Gefahren in Dänemark durch hungernd, 1943 vor den Nazis nach Schweden flüchten und sich auch dort notdürftig über Wasser halten. Doch Europa war mit jedem Sieg Hitlers für die, von denen hier die Rede ist, lebensgefährlicher. 95.016 von ihnen flohen nach 33 nach Übersee, wenig, verglichen mit den 56 Millionen Menschen in den letzten beiden Jahrhunderten. Die Zahl 95.016 freilich enthält einen nie dagewesen großen Prozentsatz von Geistesarbeitern. In den USA allein landeten 7.622 Akademiker aus Deutschland und Österreich. Und da Forschung und Wissenschaft die beiden Jahrhunderte seit 1800 in besonderer Weise prägten, ist der „Auszug des Geistes” nach 33 ein Ereignis, wie es in der Geschichte bis dahin nicht vorkam. Die USA profitierte enorm davon. Wissenschaftszweige entstanden, die es dort vorher so noch nie gegeben hatte. In besonderer Weise galt das für die Musik. 1.015 Musikschaffende werden gezählt, 69 Komponisten, 107 Dirigenten, 330 Instrumentalisten. Die Musikwissenschaft kam zur Blüte durch Leute wie Eisler, Schönberg, Adorno, 275 an der Zahl. Und das, obwohl sich die USA durch das Einwanderungsgesetz von 1924 Schranken setzte und ab 1929 weit unter den eigenen Quoten blieb, was, wie man heute annimmt, der Weltwirtschaftskrise geschuldet war.
Spell your name – heißt ein amerikanisches Schlagwort. Welche Namen wir hingegen auch immer nennen, wir reden von jüdischen oder politischen Flüchtlingen, oft von beiden zugleich. Und sie gehörten zur geistigen Elite Deutschlands oder Österreichs und hatten nun regen Anteil an der wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklung der USA. Das heißt, es betraf gerade die, die, wie bei Brecht und Hannah Ahrendt zu lesen, nicht Emigranten, also Auswanderer, waren, sondern Flüchtlinge, verbannt und vertrieben, mit sehr realen Gefahren für Leib und Leben, und auch in der Fremde riskierend ein Leben ohne Paß, Schutz, Arbeit, Ansehen, Wohnung, Geld. Dabei ist hier die Rede von berühmten Leuten, Promis, würde man heute sagen, solchen mit einem name, wie man damals in Amerika sagte. Brechts Erfahrung in einem seiner vielen Exilgedichte: „Wohin ich gehe, hör ich, Spell your name. Ach, dieser name gehörte zu den Großen”.
Der Theaterwissenschaftler Kurt Pinthus, der als Jude auf den vorderen Plätzen der schwarzen Listen unter Hitler stand, kam mit 10 Dollar in Amerika an, und teilte 10 Jahre lang das Schicksal arbeitsloser Schauspieler wie Jessner, Granach und Weigel und erfuhr, dass „es leichter ist, in dem Land zu hungern, in dem man geboren wurde und das man kennt.”
Gina Pietsch
(Erstdruck auf UNSER BLATT, VVN-BdA 2012)