Victor Klemperer
Ein jüdisch-deutsches Leben zwischen Kampf und Liebe
Am 9. Oktober 1881 wird er geboren in dem kleinen Städtchen Landsberg an der Warthe als das neunte Kind des Rabbiners Dr. Wilhelm Klemperer. Über die Zwischenstation Bromberg beginnt das erfolgreiche Wirken der Familie in Berlin, wo der Vater 2. Prediger der Berliner Reformgemeinde wird, wo Söhne, Töchter, Nichten und Neffen Gymnasien besuchen und studieren, mehrfach Medizin, besonders erfolgreich der Älteste, Georg, der einige Male den von ihm verehrten, nun kranken Lenin behandeln muss, international gefeiert aber besonders der Cousin Otto Klemperer als Dirigent.
Victor, der von seinen älteren Geschwistern nicht nur als der Kleine, sondern besonders in den Anfängen als der Sorgenbereitende gilt, der sich schwer entscheiden kann für einen Beruf, noch schwerer für sein Innerstes, Jude zu sein oder Christ oder einfach Deutscher. Während seiner Germanistikstudien u.a. in Genf, ist er sich, sein Deutschtum betreffend, in der Weise sicher: „Wir Deutschen waren besser als die andern, freier im Denken, reiner im Fühlen, ruhiger und gerechter im Handeln.” Das freilich war 1902/03, also noch sehr jung.
Die nun begonnene Beschäftigung mit der französischen Literatur, insbesondere Voltaire, lehrt ihn relativieren, freilich auch wieder zweifeln. 1905 bricht er sein Studium ab und lebt nun bis 1912 als freier Publizist und Schriftsteller in Berlin. Er schreibt, kleinere Sachen, Gedichte, ein paar Monografien, eine Erzählung, die er „Glück” nennt, die aber nicht an das Glück heranreicht, das er seit seiner Heirat mit der Pianistin Eva Schlemmer erlebt, von 1906 bis 1951.
Bis der 1. Weltkrieg beginnt und Klemperer von November 1915 bis zum Lazaretaufenthalt März 1916 an der Wesfront dient, hat er Studienaufenthalte in halb Europa hinter sich, eine Promotion zu Friedrich Spielhagen und eine Habilitation über Montesquieu bei seinem wichtigsten Lehrer und lange verehrtem Freund, Professor Karl Vossler in München. Vossler war es auch, der sich für ihn einsetzte, als antisemitische Strömungen in Dresden seine Professur an der Technischen Hochschule verhindern wollten. Er ist dann also Ordentlicher Professor an dieser Schule von 1920 bis 1935. Wichtige romanische Schriften entstehen, die wichtigste vielleicht seine 5-bändige Geschichte der französischen Literatur. Er ist außerordentlich produktiv in dieser Zeit, wohl auch glücklich, besonders, da er Eva glücklich macht durch den Hausbau in Dölzschen. In das Haus Am Kirschberg 19 ziehen sie 1934. Eva gärtnert mit Inbrunst und Victor hat Angst vor jedem Monat, da 1935 zwangsweise in den Ruhestand versetzt auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und seinem, Klemperer betreffenden § 3, den sogenannten „Arierparagraphen”.
Nun nimmt die Judenhetze, seit Mitte der Zwanziger zu merken, zu. „Wir rechnen damit, hier nächstens totgeschlagen zu werden”, schreibt er in den Tagebüchern 1933-45, die er betitelt mit „Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten”. Und wie gut, dass er das tut, genaustens, „ohne zu fragen, ob die Ausnutzung der Notizen noch einmal glückt”, immer unter Lebensgefahr übrigens. Eva schmuggelt sie aus Dölzschen heraus nach Piskowitz, wo Agnes sie versteckt. Drangsalierungen, Schikanen aller Art erleben sie in Form von über 40 Verboten und Verordnungen.
„Wir sind durchs Rote Meer gekommen, wir werden auch durch die braune Scheiße kommen”, tröstet sich der jüdische Volksmund. Es ist nicht Klemperers Sprache, wohl aber sicher seine Sicht. Für ihn ist klar:„Wer kein Todfeind der Nazis ist, kann mir nicht Freund sein.” Denn was ist da alles noch zu ertragen, die Vertreibung aus ihrem Haus, das Hineingepferchtsein in nacheinander drei sogenannte Judenhäuser, die Dresdner Vernichtung am 13. und 14. Februar 1945, die Flucht nach München und zurück und dann an diesem 10. Juni 45 der märchenhafte Umschwung wieder in Dölzschen.
Klemperer stürzt sich in die Arbeit für eine Neuordnung der Verhältnisse. Natürlich ist er sofort wieder Profressor, in Dresden, in Greifswald, in Halle. Aber natürlich gehen nicht alle Hoffnungen auf. Er sieht keine Alternative für die DDR, aber „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen” – das der Titel der späten Tagebücher 1945–1959. Die zu beschreiben? Kein Platz reicht aus. Aber man sollte sie lesen.
Gina Pietsch
(erstgedruckt in UNSER BLATT, VVN-BdA Oktober 2020)