Poetisches Theater
Poesie in heißen Zeiten – Gina Pietsch erinnert sich
Wenn ich Christoph Hein treffe, zuletzt bei Schalls Begräbnis, dann sagt einer von uns meist den Satz: „Weißt Du noch, wie wir damals ‚Bessie Smith’ gespielt haben?”
Ja, Christoph war auch dabei, und natürlich bin ich heute stolz, mit einem so wunderbaren Schriftsteller zusammen auf einer Studentenbühne gestanden zu haben. Das dürfte 68 gewesen sein, oder 67? Jedenfalls waren meine Jahre an diesem Poetischen Theater die von 65 bis 69. Heiße Zeiten, wie man heute weiß. Die 68-iger also, die auch in unser Nest hinüber schwappten.
Das Überschwappen bestand unter anderem in bis dato ungewohnt vehementen Protesten gegen den geplanten Abriss der Unikirche auf Betreiben des damals als besonders stalinistisch berühmt-berüchtigten 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED, Paul Fröhlich. Gerade, weil die Theologiestudenten Vorreiter waren und ich mit der Kirche nicht allzu viel am Hut hatte, schien mir dieser Plan bis zum letzten Tag hin nicht ganz glaubhaft. Und der Mitteilung in der „Bildzeitung” über den tatsächlichen Abriss, konnte ich trotz der Bilder auch kaum glauben.
Bei „Bildzeitung” dürfte der Leser stutzen. Wieso konnte ich, besser wir – fünf damals von der Studentenbühne, Helga Sylvester, Peter Grünstein, Eike Sturmhöfel, Christoph Rüger und ich – dieses Blättchen lesen? Ja, wir waren eben an jenem Tag gerade bei einem dieser unglaublichen Auftritte im Westen, wie meistens mit Brecht, in den Audimaxen Marburg, Essen, Dortmund, richtige kleine Tourneen durch westdeutsche Unistädte, erlaubt seit Oktober 67.
Zurück nun von dieser einen 68, sahen wir die Bescherung. Man hätte damit rechnen können, dass ein solch ungeheurer Fehler, den nicht nur gläubige Menschen als Verbrechen empfanden, weitere nach sich zog. Ein riesiges Durcheinander in den Köpfen, nicht nur der Studenten, und zum Teil kuriose Schwierigkeiten, in die nicht wenige Institutionen gerieten. Wir spielten beispielsweise „Der Tod von Bessie Smith” von Edward Albee im Keller der Schauspielschule, Christoph Hein, Rüdiger Joswig, Carola Röger, Helga Sylvester und ich, alternierend in der Rolle der Krankenschwester. Ich war gerade dran und bekam auf der Stelle von Dozenten der Schule ein Angebot, zu ihnen zu wechseln, eigentlich denselben, die mich in der letzten Runde, also der Aufnahmeprüfung, drei Jahre vorher hatten durchrauschen lassen.
Warum das Ganze? Schauspielstudenten, die sich den Protesten gegen den Abriss der Kirche und den gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag angeschlossen hatten, waren kurzerhand in die Produktion versetzt, und es gab plötzlich Vakanzen.
Ob es richtig war, dass ich damals das Angebot aus nicht sehr weisem Stolz abgelehnt habe, das weiß ich nicht. Meine Geschichte jedenfalls wurde eine mit Umwegen. Diplom für Musik und Deutsch an der Karl-Marx-Uni, Zusatzstudium für Gesang, speziell Chanson, an der „Eisler”, bei Frau May, das meiste gelernt bei Schall, der mein eigentlicher Lehrer wurde, so denn doch noch Externabschluss für Schauspiel an der „Busch” und also ein Leben auf Bühne, Garderoben, Autobahnen, Flughäfen, heute in diesem Deutschland und draußen, in besonderem Ausmaß damals aber in „meinem Dörfchen DDR", wie der Hacks es nennt.
Ein Glück, könnte man heute sagen, wenn das Studentenbühnen-Hobby zum Beruf hat werden können. So blieben die Brecht-Abende, die wir gaben, in der Handelsbörse oder wo auch immer, nicht nur im Gedächtnis, sondern waren immer wieder Anknüpfungspunkte an das, was ich unter Schalls Augen verbessern konnte und was ich bis heute mache. Leipzig war für mich eine gute Brecht-Schule. Lag es an Hans Mayers Einflüssen oder denen von Klaus Schuhmann, oder nur an dem besonderen Faible und der enormen Brecht-Kenntnis des Leiters Eike Sturmhöfel? Ich weiß es nicht, es kam mir nur eben recht.
Aber freilich gab es auch andere Anreger und andere Themen. Demmlers Komposition von Gottfried August Bürgers „Colinet und Juliette” konnte ich vor fünf Jahren noch aus dem Gedächtnis aufschreiben und zum Auftakt meines eigenen Abends zum Thema Sex machen. Einen solchen Abend hatten wir knappe 40 Jahre vorher nämlich auch. Helga Sylvester sang die „Circe” von Hollaender. Was sang ich? Weiß ich nicht mehr.
Eigentlich fing ich bei „Fürnbergs” an, also beim „Poetischen Theater Louis Fürnberg”, das sich der besonderen Pflege der Literatur dieses Dichters verschrieben hatte, durch das ich aber auch Wosnessenski, Prévert und Hacks kennenlernte. Letzterer mindestens blieb gespeichert bis heute und konnte für meinen neuesten, ersten Hacks-Abend, verwendet werden. Demmlers „Trip, trip, trop” aus Hacksens „Flohmarkt”, das wir in Demmlers Singeklub sangen, kann ich heute noch.
Apropos Singeklub, Mitglied ich wurde dort zunächst ganz unfreiwillig. Am Schwarzen Brett stand, ich hätte mich zur Probe einzufinden. Methoden waren das! Aber welcher Spaß dann! Mit Demmlers „Lied aus dem neuen Tag” wurde unser Freizeitspaß dann sogar irgendwie wichtig. Der Komponist hatte es rockig angelegt, unspielbar also für unser bescheidenes Instrumentarium. Es schien keinen zu geben, der das begleiten konnte, außer den gerade verbotenen „Butlers”. Und tatsächlich, als Klaus-Renft-Combo nun, konnten wir gemeinsam agieren. Wie Demmler oder wem auch immer dieser Trick gelungen war, hab ich leider auch später Renft nie gefragt. Schade, nun geht es nicht mehr.
Die Studentenbühne schien mir von Anfang an besonders erstrebenswert ob ihres damals schon sichtbar hohen künstlerischen und intellektuellen Niveaus wegen. Meiner Erinnerung nach, die nicht genau sein muss, haben wir in dieser Zeit außer „Bessie Smith” von Edward Albee wenig Theater gespielt, uns also vornehmlich mit der „Kleinen Form” beschäftigt.
Lag das an den schon erwähnten „heißen” Zeiten, denen solch praktikable Kunstformen gut anstehen? Diese West-Auftritte mehrten sich dann nämlich. Man war einmal da, war wieder zurückgekommen und galt so als vertrauenswürdig.
Vor ein paar Jahren wurde ich wieder daran erinnert. Nach einem Abend, den ich in Leipzig gab, sitzen wir beim Wein in der Kneipe. Ihr, der Veranstalterin, als Dozentin an der Uni beschäftigt, erzähle ich von der Studentenbühne und unseren Reisen. Daraufhin großes Erstaunen, wie ich als ehemaliger „Reisekader” seit nunmehr 14 Jahren Dozentin an der „Busch” sein könnte. Ich brauchte eine Weile, um diese Frage zu verstehen, bis sie mir erklärte, dass an ihrer – und ehemals meiner – Uni ein ehemaliger „Reisekader” nicht als Dozent angestellt sein könnte. Mein Versuch, „Reisekader” von Stasi zu unterscheiden, half auch nichts. Ach, du liebe Heldenstadt, dachte ich mir.
Bernhard Scheller hat die Geschichte der 60 Jahre des „Poetischen Theaters” aufgeschrieben. Ich wusste gar nicht, dass es knapp mein eigenes Alter erreicht hat. Und welch erstaunliche Angebote und Ergebnisse! Ein Fünfzehntel davon hab ich ein klein wenig mitgeprägt. Soll ich sagen, das macht stolz? Bisschen kleiner vielleicht, es freut mich.
Gina Pietsch
(2005 geschrieben für eine Studentenzeitung der Universität Leipzig)