Laudatio anlässlich der Verleihung des Preises für Solidarität und Menschenwürde an Gina Pietsch am 17. Juni 2018
Ellen Brombacher
Am 19. Februar fand in diesem Raum zur Erinnerung an den vor 75 Jahren in Stalingrad erfochtenen Sieg der Roten Armee eine Veranstaltung statt. Begonnen hatte das Treffen um 18 Uhr und dauerte – ohne Pause – bereits etwa drei Stunden an, als Gina Pietsch gemeinsam mit Tochter Frauke die Bühne betrat. Ich hatte zuvor zunehmend unruhiger zu Gina hinübergeschaut und fragte mich: Wie will sie noch einmal die Aufmerksamkeit der häufig nicht mehr jungen Anwesenden erlangen? Es ist spät, es ist dunkel. Und so manchem steht noch ein längerer Heimweg bevor.
Bei den ersten Worten Ginas war es noch unruhig. Dann das erste Lied: Wladimir Majakowskis großartiger Linker Marsch. Schlagartig wurde es still. Wie ist so etwas möglich? Ist es „nur” Ginas Stimmgewalt, die Kunst ihrer Darstellung? Sind es „nur” die mit Klugheit und außerordentlichem Fleiß ausgewählten Texte, die sie allesamt auswendig vorträgt? Ist es „nur” die Professionalität, die makellose, geschliffene Perfektion – die das Maß an Arbeit und Anstrengungen hinter der scheinbaren Leichtigkeit und der realen Wärme des Auftritts verbirgt? Ist es das alles zusammen? Es ist – obwohl das fast nicht geht – noch mehr. Es ist, sagt Frauke, Ginas Mission. Sie sei der Kunst und ihren Überzeugungen verpflichtet. Bewunderung und Beifall erfreuten sie natürlich. Aber beides zu erlangen sei nicht Ginas primäre Motivation. Sie brauche das Gefühl, alles getan zu haben, was man irgend tun könne. Das mache ihre Wahrhaftigkeit aus; das empfände sie als ihre Berufung, so Frauke, die mit ihr auf der Bühne steht und mit ihr das Lampenfieber und den Erfolg teilt. Stolz ist Gina auf die Tochter, so wie die Tochter auf die Mama. Wer Ginas Biografie gelesen hat, weiß auch um die Steine auf dem Weg zu solchem Glück.
Mein Dörfchen Welt – nennt Gina ihren Lebensbericht. „Sie hat den Mut”, schreibt ihre Freundin Heidrun Hegewald, „eine Erzählsprache zu wählen, die geeignet ist, dieses unerhörte Tempo ihrer Erzählkette zu tragen”. Sabine Kebir in der Jungen Welt und Karlen Vesper im ND rezensieren die Biografie mit annähernd wortgleichen Überschriften: „Die große Brechtinterpretin Gina Pietsch hat ihre Erinnerungen verfasst”. Zweifellos ist sie eine Große. Dass sie keinerlei Starallüren hat, unterstreicht das nur. Noch einmal Frauke: ”Sie misst sich an jenen, die kein Aufhebens machen. Das Anliegen ihrer Kunst ist ihr zu kostbar, als dass sie es durch Gewese entwerten würde.” Vielleicht passt, wenngleich es mit ihrer Kunst nicht direkt zu tun hat, hier am besten, zu erwähnen, dass sie mit ihrem Gerd wie selbstverständlich beim Ostermarsch dabei ist, am 1. Mai, bei der Fiesta de solidaridad, bei Antinazi-Aktionen oder bei den Ehrungen der Befreier am 8. Mai. Dass sie aktiv ist in der VVN/BdA. Antifaschismus ist ihr ein Herzensbedürfnis und tagtäglich mehr zwingende politische Notwendigkeit in einem.
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Das zieht sich auch wie ein roter Faden durch Ginas Lebenserinnerungen. In Querfurt im Harzvorland geboren, „verlebte sie”, so Karlen Vesper, „eine behütete Kindheit, in der bereits Weichen für ihre spätere Laufbahn gestellt” wurden. Der Vater Erich-Otto Busch war Leiter des Kulturhauses des Chemiefaserkombinats „Wilhelm Pieck” in Schwarza. Die Mutter Anneliese gehörte wie er zum Ensemble eines Arbeitertheaters. Gina schreibt über sie: „Überhaupt konnte meine Mama alles, was mit den Händen zusammenhing, alle denkbaren Handarbeiten also, für die sie im Kulturhaus Kurse gab. ... In ihren Kursen war meine „Mutter sehr beliebt, das zumindest konnte man den vielen Briefen entnehmen, in denen Kleine und Große Anteil nahmen an ihrer schweren Krankheit.” Die Mutter stirbt dreiundfünfzigjährig an Krebs. „... am 8. Mai 1967, ausgerechnet an unserem Tag der Befreiung”, schreibt Gina. Und weiter: „Als sie dann gestorben war, konnte ich, in der Straßenbahn sitzend, keine Oma ansehen. Alte Frauen waren mir verhasst, weil meine Mama, über alles lebenslustig, so früh gehen musste.” Ginas Schwester Maha, über die sie berichtet, sie sei so schön wie die Mutter gewesen, stirbt ebenfalls mit dreiundfünfzig Jahren. „Der Krebs”, so Gina, „kam schon mit der Wende und 1990 brach er aus, machte sie immer schmaler, und schöner und nahm sie uns im März 1992 weg. Und ich werde nicht fertig damit.”
1973 wurde Gina eingeschult und absolvierte ihr Abitur, kombiniert mit dem Beruf des Lokschlossers. An der Karl-Marx-Universität studierte sie Pädagogik und dann - derweil sie zuvor schon künstlerisch wirkte - doch noch Musik an der KMU, Chanson an der Hochschule Hanns Eisler bei Gisela Mai sowie Schauspiel an der Hochschule Ernst Busch. Meine Erinnerungen an Gina beginnen mit ihrem Wirken im Berliner Oktoberclub. Unvergessen sind die Auftritte der Profi-Truppe Jahrgang 49 beim Festival des politischen Liedes. Gina gehörte zu dieser exzellenten Gruppe, die in der ganzen Welt auftrat. Ich hatte sehr direkt mit der Organisation des Festivals zu tun und wusste, wie begehrt die Eintrittskarten waren. Die ganze Nacht zuvor warteten die Leute auf den Verkaufsbeginn - so wie heute auf neue iPhone-Modelle. So wechseln die Werte.
Ich versuche nicht einmal, all diejenigen aufzuführen, die Gina kennenlernte; mit denen sie auf der Bühne stand. Ich versuche nicht einmal, auch nur einige ihrer Programme zu nennen: Fünfundsiebzig sind es – davon 31 Brechtprogramme. Auch versuche ich nicht, hier in Kurzfassung die Stationen ihres Lebens aufzuzeigen. Ein Leben lässt sich eben nicht auf Stickpunkte reduzieren – und so eines wie das ihre schon gar nicht. Herausgreifen aus ihren Erinnerungen möchte ich hier eine Geschichte, die mich besonders berührt und – so glaube ich jedenfalls – mir manches erklärt hat. Die ihres Vaters, den sie Papa EO nennt. „Mein Vater”, so schreibt sie über die faschistische Zeit, „stand diesen Krieg fast bis zum Ende durch, stolz sich vor dem Sacré-Cœur in Paris fotografieren lassend oder auf einem rassigen Pferd, als Skijäger dann in Russland, also Sportler, nicht besonders leidend in die Kamera schauend. Sein Soldatenleben endete 1944 mit einem Kopfdurchschuss, weshalb er später ein Glasauge tragen musste, übrigens das Einzige, was dieser unglaubliche Schuss hinterlassen hatte. Eine sowjetische Ärztin hat ihm das Leben gerettet, wie er oft mit einem gewissen Stolz zu berichten wusste. Den Stolz könnte er im Lager gelernt haben, wo er vor seinen gefangenen Mitsoldaten nicht nur wieder Theater spielen, organisieren und inszenieren durfte, sondern wohl auch gänzlich umerzogen wurde. Denn mein Vater war als junger Mann alles andere als ein Antifaschist. Die fünf Jahre Arbeitslosigkeit von 1931 bis 1936 hatten ihn offensichtlich verführt, in Hitler den Retter in der Not zu sehen. ... Die Scham, diesen Krieg mitgemacht zu haben, hat ihn bis an sein Lebensende nicht losgelassen ...”
Inmitten des heutzutage perfide geschürten Russenhasses ist es notwendig, daran zu erinnern: Undenkbar, dass ein deutscher Militärarzt einen sowjetischen Kriegsgefangenen gerettet hätte. Unvorstellbar. So etwas kann einen Menschen in seinem Innersten erschüttern. Und das ist offenkundig mit Ginas Vater geschehen. Er hatte einem verbrecherischen Regime gedient, was auch besagt: Er hatte in der ersten Hälfte seines Lebens fundamental geirrt. Und wollte sicher einen solchen Irrtum nie wieder. Das machte ihn fest, bisweilen wohl starr und Gina und Mara bekamen das zu spüren. „Wir erlebten”, so Gina, „eine Mischung aus Wiedergutmachungskomplex und echter Entdeckung des Marxismus in seiner zweiten Lebenshälfte, die nun unbedingt die bessere sein musste. Und so war es trotz seiner ehemals christlich geprägten Güte recht schwer, mit ihm über politische Probleme zu reden, die man eben als junger Mensch hat.” Es hat Gina wohl nicht zuletzt die Geschichte ihres Vaters nachhaltig geprägt. Wenn sie Jewtuschenko singt „Meinst Du, die Russen wollen Krieg”, dann leben in den gesungenen Zeilen der Vater und die sowjetische Militärärztin. Dann ist Gina mit ihnen auf dem Mamajew-Kurgan in Wolgograd und fragt ihren Vater im Stillen, wie konntest Du das nur mitmachen? Und zwischen den Zeilen ist ihr Wissen um die verheerende Wirkung von Perspektivlosigkeit; die Verführbarkeit. Heute nicht weniger, als in den dreißiger Jahren. In ihrem Vortrag ist das Wissen um die Geschichte des Jewtuschenko-Textes ebenso, wie jenes um das Schicksal dieses großartigen russisch-jüdischen Poeten. Und ganz sicher schwingen die vielen Begegnungen mit russischen Menschen mit. Die russisch gesungene Strophe ist frei von deutschem Akzent.
Und jedem, der sie je mit diesem Lied erlebt hat, bleibt die kleine Geste in Erinnerung, wie sie sich angedeutet an den Kopf fasst, bei der Frage ”Хотят
ли русске войны”? Und so, wie sie selbstverständlich beim Ostermarsch dabei ist, zeichnet sie Erklärungen, initiiert durch ihre Freunde Christiane und Wobbel: „Macht euch die Russen nicht zum Feind”. Sie weiß, dass deutsche Panzer wieder an Russlands Grenzen stehen und sie sieht den Zusammenhang zwischen dieser aggressiven Bedrohung und der gewaltigen Brücke zwischen dem Festland und der Krim, oder auch den russischen Uniformen in Syrien. Und sie weiß auch, was ihr Vater dazu sagen würde, der die Grenze zur Sowjetunion damals überschritten hatte. Und so liegt in der Frage „Meinst Du, die Russen wollen Krieg” auch Ginas ganz persönliche Antwort: Wollen sie nicht. Sie wollen die Menschheit vor dem Atomkrieg bewahren.
Ihr ganzer Respekt, ja ihre Liebe gehört denen, die dazu beitrugen, den Faschismus – muss man heute sagen: vorerst? – zu beseitigen. In diesem Kontext noch eine Geschichte: An einer Veranstaltung Ende des vergangenen Jahres – Gina und Frauke traten mit dem Programm auf „Hey, wer schreitet dort rechts aus? Links” – nahm unser sehr verehrter Genosse Professor Moritz Mebel teil. Der Urologe gehört zu den international bekanntesten Medizinern der DDR. Als Kind floh er mit seinen Eltern Anfang der dreißiger Jahre nach Moskau und als Freiwilliger kämpfte er, ein deutscher Jude, den gesamten Krieg über gegen das faschistische Deutschland, am Schluss als Garde-Oberleutnant der Roten Armee. Als Gina und Frauke das Lied „Der Heilige Krieg” sangen, stimmte Moritz mit ein. Nachdem der Beifall verklungen war, wandte sich Gina mit einem Lächeln, in dem eine Welt von liebevollem Respekt lag, an ihn mit den Worten: „Moritz, das war für Dich.” Gerade in solchen Augenblicken kann man spüren: Da ist eine, die mit ihrer Kunst und ihrer Wahrhaftigkeit das Leben ein Stück besser macht.
Es wäre unredlich, täte ich heute so, als habe es zwischen Gina und mir nie etwas anderes gegeben, als die bloße Harmonie. Direkte Konflikte, die ja nun durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hätten, sind mir nicht erinnerlich. Doch darum geht es auch nicht. Mit großem Interesse las ich in Ginas Biografie die Passagen über ihr Wirken in der Zeit der Wende, von der wir heute wissen, dass sie nicht der Zukunft zugewandt war. „Nun hatte ich bereits achtzigmal mein Antimauerstück gespielt, war überzeugt, dass sie weg muss”, schreibt Gina. Standen wir in jener Zeit auf verschiedenen Seiten? Ja und nein. Ich würde dreist lügen, würde ich behaupten, in den Spätsommer- und Herbstwochen des Jahres 1989 auch nur einen Funken Sympathie verspürt zu haben für all die Aktivitäten, die mit dem Begriff „Erneuerung” versehen wurden. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Bis heute habe ich keine lichtvollen Erinnerungen an diese Wende. Es war jene Zeit, in der Gorbatschow nicht nur die DDR zur Disposition gestellt hatte. Jene Zeit, in der die Partei, deren Funktionärin ich war, keinen Fehler, der irgend gemacht werden konnte, ausließ. „Wir weinen ihnen keine Träne nach.” Diese Äußerung zu den zigtausenden Menschen, die der DDR über Ungarn den Rücken kehrten, hatte Negativsymbolkraft. Waren es doch unsere Leute, um die man nicht trauern sollte. Da bleibt als Vergleich nur Brecht und sein Gedicht „Die Lösung”: „Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, dass das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / Zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?”
Es war jene Zeit, in der es um Sein oder Nichtsein der DDR ging. Oder sage ich besser? Das Kräfteverhältnis hatte diese Frage schon zu unseren Ungunsten entschieden. Nur wussten wir es noch nicht; auch Gina und ich nicht. Und wir suchten nach Auswegen und fanden sie nicht nur nicht. Es gab sie nicht mehr, zu dieser Zeit. Was wir auch taten – auf der einen oder der anderen Seite; wir beschleunigten nur den Untergangsprozess. Das Ende der DDR wollten wir beide nicht und schon gar nicht das, was wir jetzt haben. Das war unsere Gemeinsamkeit und die wuchs und wächst. Und sollten wir je auf unterschiedlichen Seiten gestanden haben, so ist das weit mehr als ein Vierteljahrhundert her – völlig unerheblich heute, außer in einem Punkt – das wissen wir gemeinsam aus vielen Gesprächen: Wir sind weitaus nachdenklicher geworden. Frauke erzählte mir, Gina würde getrieben von dem unverbrüchlichen Glauben, dass der Kapitalismus das Falsche sei und man gegen ihn kämpfen müsse. Sie, Gina, sei fest in dem Glauben, dass das irgendwie gehen könne, mit einem zweiten Anlauf. Und Frauke fügte nachdenklich hinzu – als eine Art Frage auch an uns beide: „Und wenn so etwas wie eine Revolution gelingen würde, was käme dann diesmal danach?”
Wie sollen wir das wissen? Es gibt wohl nur eine Gewissheit: Ohne die Überwindung des Profitmechanismus, ohne die wie auch immer geartete Lösung der Eigentumsfrage im gesamtgesellschaftlichen Sinne wird die Zivilisation vergehen. Es droht der große Krieg. Es droht ein neuer Faschismus. Nichts Fortschrittlicheres, nichts Menschlicheres gibt es heute als den Friedenskampf und die antifaschistische Aktion. Und dann sehen wir weiter.
Es ist mit dem politischen Engagement irgendwie ähnlich wie mit dem Wirken auf der Bühne. „Man geht raus”, sagt Frauke, „und jedes Mal ist es ein Risiko. Es kann theoretisch schiefgehen.” In Anbetracht des Weltzustandes muss gesagt werden: Es kann auch praktisch schiefgehen. Gerade deshalb ist Kampf unerlässlich. Heute wird eine Frau, eine großartige Künstlerin geehrt, die es sich im Leben nie leicht gemacht hat und die alles Recht der Welt hat, zu sagen – ich zitiere aus ihren Erinnerungen: „Auf der Bühne anderen Menschen das darzubringen, was man ehrlich empfindet, was man liebt, was man beitragen will zu ähnlichem Empfinden und ähnlicher Sicht derer da unten im Saal, kann man wirklich als Glück verstehen und fühlen.”
In diesem Sinne, liebe Gina, ist Dein Glück unser Glück. Bleib vor allem gesund und sei bedankt.
Preisrede von Gina Pietsch
Liebe Freunde, Genossen, Kameraden, Kollegen, liebe Gäste,
„ich stehe heute bei dieser Preisverleihung das erste Mal an einer Stelle, die ich nie erwartet hätte. Bisher durfte ich singen bei der Verleihung dieses wichtigen Preises u.a. an Täve Schur, Raul Castro, Annette Groth, Sewim Dagdelem, Günter Pappenheim, heute Hans Reichelt. Und, wenn ich mich mit all denen vergleiche, weiß ich wirklich nicht, womit ich den Preis verdient habe. Ich wüsste einige, die ich mir gut und eher hier hätte vorstellen können, meine Laudatorin Ellen Brombacher beispielsweise. Und sie ist nicht die einzige. Da ich nun aber ausgesucht und vorgeschlagen bin von Menschen, die ihr Herz, ihr Kopf, ihr Wissen und ihre Haltung unantastbar machen, sage ich danke und nehme mit großer Rührung und Ehrerbietung diesen beneidenswert schönen Preis an.
Preise verpflichten, wie jeder weiß, ich aber weiß nicht, ob ich dieser hohen Verpflichtung standhalten kann. Eigentlich weiß ich nur eins: meine Haltung zu dieser großen, wie Brecht es gerne nannte „dritten Sache”, also dem Kampf gegen eine Gesellschaft der Ausbeutung, für eine sozialistische, wenn auch ich diese nicht mehr erleben werde, diese Haltung habe ich im Elternhaus, in Schulen, Hochschulen und Unversitäten der DDR gelernt, nie vergessen und bin auch nicht gewillt, sie in meinem Leben noch vergessen machen zu lassen. Gerade Letzterem, dem Vergessen-machen-Lassen eines großen Experiments im Sinne der Unteren, muss jeden Tag standgehalten werden. Und sage mir keiner, dass das immer leicht ist.
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Dem Übermaß an Lügen, nicht selten gebildet klingenden, dem wir täglich ausgesetzt sind, der Kontrolle von Ideen und Emotionen, von den Medien angefangen bis in die wichtigsten politischen Instanzen, sich entgegenzustellen mit besseren, klügeren, menschlicheren Argumenten, ist gar nicht so leicht, aber eine große, notwendige Aufgabe. Ich versuche das auf der Bühne mit meinen Abenden, als Dozentin vor zumeist Schauspielstudenten, denen ich das beibringe, was ich selber tue und kann und nicht zuletzt als politischer Mensch in VVN, BÜSGM, bei den Freidenkern, der Frauen- und Friedensbewegung und wo es immer Möglichkeiten gibt, noch so aktiv zu sein, wie es mein Alter erlaubt. Diesen Aufgaben fühle ich mich glücklicherweise – noch – gewachsen, was sicher auch mit meiner Herkunft zusammenhängt. Ich komme ja aus einer „Wir-Generation” – so nenne ich das jedenfalls gerne, weil auch das so gelernt und durchaus nicht als schlecht empfunden. Ich zu denken, lag für mich sehr lange Zeit dicht bei Egomanie oder Egoismus und war schon in meinem Elternhaus nicht beliebt. Weisheiten wie, man kann die oder den anderen nur gut lieben, wenn man sich selber liebt, habe ich erst lernen müssen. Und nicht zu vergessen: ich bin zugehörig gewesen zu einer Zeit großer progressiver Weltbewegungen, die nicht unbedingt in der DDR entstanden, aber doch über Fernsehen und Radio merkbar zu uns „rüberschwappten”, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Schwulenbewegung, 68er, also auf Veränderung der Gesellschaft Hinzielendes. Ich hab das große Glück gehabt, sehr nahe an die Menschen solcher Bewegungen heranzukommen, auch als eingefleischte DDR-Bürgerin. Freilich war ich eigentlich keine „richtige”, denn ich durfte arbeitsmäßig in den Westen reisen, also Welt erleben und viele großartige, kluge, freilich zumeist linksorientierte Menschen kennenlernen. Das waren wirkliche Privilegien, beneidenswerte.
Als ich die von Partei und Regierung der DDR auf die Schienen gesetzte professionelle Gruppe für politisches Lied Jahrgang 49 verließ, waren meine Privilegien futsch, kein Fernsehen mehr, selten Radio. Meine fünf Soloabende bis zum Fall der Mauer, haben AMIGA nie interessiert, meine siebzig danach die Westmedien sowieso nicht. Ich sage das sehr ungern, weil es immer nach Opfer klingt, als welches ich mich nie gefühlt habe. Mir war immer klar: Ich passe da sowieso nur schlecht rein. Diese „Klarheit” macht freilich nicht unbedingt froh. Es gibt Tage, an denen ich deprimiert bin. Aber ich bin bisher immer wieder in der Lage gewesen, entweder mich selber hochzuholen oder mich hochholen zu lassen, von meinem Mann, von Freunden, meinem Publikum oder durch meine Schüler, die mich forderten und fordern, an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch”, der Filmuni Babelsberg und diversen Kursen anderswo. Das war auch Lehrgeld, mit Gewinn, nicht unbedingt pekuniärem, aber mit Lerneffekten auch für mich. Denn wenn der Lehrende nicht lernt beim Lehren, soll er's lassen, denke ich. Oder mit Rosa Luxemburg gesagt: Man lernt am schnellsten und am besten, indem man andere lehrt. Ich habe nie ausgelernt, was die Bühne betrifft, aber das Vermarkten lerne ich nicht mehr, übrigens auch nicht im übertragenen Sinne. Ich weiß, dass der Mainstream mit mir nichts anfangen kann, aber ich kann mit ihm auch nichts anfangen und im Übrigen, Einschaltquoten sind mir genauso Wurscht wie den Machern von „volkstümlichen” Sendungen die wirklichen Bedürfnisse des Volkes. Das Volk ist nicht tümlich, hat Brecht mal gesagt, und das ist eine der schönsten Arroganzen, die ich kenne.
Ja, der Brecht. Mit ihm hab ich den Spaß am Denken gelernt, eine Sache, die mittlerweile das Stigma des Unmodernen, „Mega-outen” hat, abgedrängt in den Hintergrund, verdrängt durch x anders Spaßiges, die Droge, die Dummheit, aber auch durch Schönes, den Sex, das Kochen, das Reisen, in jedem Falle das „Ich”. Dabei führen uns die Love- und anderen Parades ja vor, dass gerade junge Leute ein „Wir” wollen. Es scheint zwar mit Hopsereien und Ähnlichem befriedigt zu sein. Aber wie jede Verallgemeinerung ist auch eine solche sicher falsch. Unter meinen Studenten an der Busch und Babelsberg habe ich keinen kennengelernt, den die Welt nichts anginge. Was haben die geackert, man kann auch gekämpft sagen, als die Busch plattgemacht werden sollte. Und was war das für ein Stolz, als die Pläne geändert wurden.
Wir meinen, dass eine Politik im Sinne der Unteren nicht möglich ist ohne Kultur und Kunst. Ich denke, dass wir, die wir das Herz links haben, auf Kunst und Kultur überhaupt nicht verzichten können. Sie zu nutzen, war in den dreißiger Jahren nicht leichter als heute. Insofern vielleicht nur, dass die Linken damals diese Riesen-Konkurrenz der Medien noch nicht hatten, UFA und Hitlers Radio fingen ja erst an. Das, was der großartige Domenico Losurdo die Spektakelgesellschaft nennt, lag noch in weiter Ferne. Und wenn Hanns Eisler und Ernst Busch auf den großen Bühnen standen, kamen die Massen hin, weil eine Massenbewegung dahinter stand. Jetzt kommen die Massen nicht, wenn ich mal schnell mit dem Keyboard auf dem Alex ein paar linke Lieder singe. „Das Fernsehen ist mein größter Feind.” Der Satz ist nicht von mir. Der stammt, glaub ich, von Botho Strauss. Aber ich unterschreibe ihn, wenn auch ungern. Lothar Bisky hat mir in den siebziger Jahren schon mal gesagt: „Wenn du das Fernsehen nicht kriegst, dann kannste dich mit deiner Kunst abstrampeln, bis du schwarz wirst!” Stimmt. Und im Übrigen, auch diese „Strampelei” ist schwieriger geworden. Die versprochenen „blühenden Landschaften” sind auch im soziokulturellen Bereich vertrocknet. In jedem zweiten Laden spielst Du „für die Tür”, was für die Kunstbereiche, die den Kopf etwas mehr beanspruchen, auf Verdienstmöglichkeiten von ein paar Abendbrots hinausläuft.
Aber es geht weiter, denn in den Sälen, die freilich kleiner werden, treffe ich immer wieder auf Leute, die sich nicht verblöden lassen wollen. Und für die lohnt sich's, hier, in Berlin, in Lörrach, in Nürnberg oder Hof.
Dass diese Leute bleiben, ist eine meiner Hoffnungen, dass mein Herz offen bleibt für deren Wünsche, dass mein Kopf offen bleibt für neue Gedanken oder alte, die vergessen, verdrängt, verschüttet, aber wichtig sind, eine andere.
Dritte Hoffnung, dass Vernunft siegen möge über ökonomisches Denken, sprich, dass jeder zukünftige Präsident, welchen Landes auch immer, keine Unterstützung bekommen dürfte, wenn er den Klimagipfel aufkündigt.
Vierte Hoffnung, dass Proteste dagegen wieder an Raum gewinnen, oder so gesagt, dass man die Linke wieder spürt, weil sie eben nicht fehlen darf, wie Losurdo uns das beschreibt, weil sie gebraucht wird, für die „Freiheit von Not und die „Freiheit von Angst”, wie der andere amerikanische Präsident Roosevelt das schon einmal auf seine Fahne schrieb.
Dann ist da eine fünfte Hoffnung, dass uns ein neuer Faschismus erspart bleibt. Das deutsche Volk hat mal Hitler gewählt, das amerikanische Trump, über die Erfolge von Rechtspopulisten in Europa, Ungarn, Polen, Türkei, Österreich und Frankreich, muss man in Sorge verfallen. Die Organisation, deren Mitglied ich bin und für deren Mitgliedschaft der von mir verehrte Historiker Kurt Pätzold in Bayern auf die Liste der politisch verdächtigen Personen gesetzt wurde, arbeitet mit der Losung „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen”. Diese Losung hieß mich, dort einzutreten und mit zu arbeiten.
Sechste Hoffnung, dass das, worauf dieses Deutschland so stolz ist, also ihre Demokratie, nicht zur billigen Phrase oder gar Entleerung verkommt, weil Menschen oder Menschengruppen mächtig werden, mit deren Plänen Demokratie nicht zu vereinbaren ist, die aber Zuspruch bekommen, weil sie den Anschein erwecken, komplexe Probleme ganz leicht zu lösen und so denen entgegen kommen, die sich durch Auswirkungen von Globalisierung abgehängt fühlen und ihrer Würde oder ihrer Arbeit beraubt wurden, schlimmer noch, dass im Namen der Demokratie demokratisch gewählte Präsidenten ermordet und ein kolonialer und neokolonialer Krieg nach dem anderen entfacht werden.
Rede ich also vom Frieden. Denn es braucht über nichts mehr geredet zu werden, wenn diese meiner Hoffnungen und die der Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten sich nicht erfüllt. In der Welt hat es kein Jahr ohne Kriege gegeben. Und, dass er bleibt in Deutschland, ist überhaupt nicht selbstverständlich, auch wenn ich, die im ersten Friedensjahr in Deutschland geboren wurde, bisher keinen Krieg erlebt habe. Deshalb werde ich auch weiter jede Aktion der Institutionen unterstützen, die sich trotz der perversen Pläne zur Erhöhung der Rüstungsausgaben in diesen Land als Punkt eins den Frieden auf ihre Fahnen heften, werde ihre Petitionen unterschreiben, Friedenslieder singen, auf Friedensdemos und Friedenskundgebungen laufen, die nächste am 22. Juni um 18.00 vor der Neuen Wache, unter der Losung „Hetze gegen Russland – nicht in unserem Namen!”, aber immer in der Hoffnung, dass ...
Ich weiß, dass Ihr und viele andere draußen diese Hoffnung teilen. Deshalb noch einmal Danke dem Bündnis für Soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde für diesen großen Preis. Danke meinen lieben und verehrten Kollegen Scarlett O. und Jürgen Ehle, die für mich gesungen haben und danke meiner Freundin und Genossin Ellen Brombacher für ihre, mich fast ein wenig schamrot machenden, schönen Worte. Danke meiner Tochter, die mittlerweile die Bühne mit mir teilt bei Themen, die zu behandeln, garnicht mehr selbstverständlich sind, wie Oktoberrevolution, Marx oder Rosa Luxemburg. Danke meinem Mann, der immer für mich da ist.
Danke Euch allen, die ihr mir zugehört habt.